forum Wahrung staatlicher Integrität gegenüber privatwirtschaftlichen Akteuren

Einführung in das Thema

Einleitung

Multinationale Großkonzerne existieren zwar schon seit fast einem Jahrhundert, ihre Anzahl und ihr Einfluss haben sich jedoch seit etwa Mitte der 1990er signifikant vergrößert. Diese Unternehmen konnten vor allem von dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der wirtschaftlichen Öffnung Chinas und der Erfindung und Ausbreitung des Internets profitieren. Globaler Handel und damit globale Konzerne sind so stark wie nie zuvor.

Obschon wissenschaftliche Untersuchungen es nahelegen, dass globale Konzerne (als wirtschaftliche Institution) weltweit aggregierte Produktivität und Wirtschaftswachstum steigern, gehen mit ihrem Aufstieg und ihrer Wirtschaftsmacht auch Probleme einher.

Zentral für die Debatte ist der Einfluss, den diese multilateralen Großkonzerne auf staatliche Akteure und ihre Entscheidungen haben. Während Staaten theoretisch das Wohl ihrer Bürgerinnen und Bürger als oberste Pflicht erachten sollten, kann der wirtschaftliche Einfluss von so genannten „Global Playern“ ein signifikantes Ungleichgewicht erschaffen. Das betrifft sowohl Entwicklungs- und Schwellenländer als auch Industrienationen – jedoch selbstredend nicht in gleichem Maße. Vergleichbar ist jedoch in beiden Fällen, dass Unternehmen ihre Wirtschaftsmacht und vor allem die Fähigkeit Arbeitsplätze zu schaffen dazu ausnutzen, besondere Konditionen von staatlichen Akteuren für ihr Handeln zu erhalten.

Hintergrund und Grundsätzliches

Internationale Großkonzerne zeichnen sich vor allem durch die folgenden vier Punkte aus:

Länderübergreifende    Produkt-Herstellung und Produkt-Verkauf

Signifikanter Umsatz (oftmals über 100 Mrd. US-Dollar (USD))

Hohe Anzahl an Angestellten. Die genaue Anzahl hier ist von der Branche abhängig – während Google-Mutter Alphabet im Jahr 2019 knapp 120.000 Angestellte hatte, waren es etwa beim Fahrzeughersteller Daimler fast 3x so viele (bei vergleichbarem Jahresumsatz).

Hauptsitz meist in den USA oder Europa. Während diese Dominanz zwar langsam abnimmt, ist sie dennoch signifikant. Viele Großunternehmen aus Schwellenländern sind entweder in staatlicher Hand (z.B. Saudi Aramco, Saudi-Arabien, über 300 Mrd. USD Jahresumsatz), im Rohstoffsektor aktiv (z.B. Gazprom, Russland, 120 Mrd. USD Jahresumsatz), oder vor allem im lokalen Markt vorherrschend (z.B. Alibaba, China, 30 Mrd. USD Jahresumsatz).     

Diese besondere Kombination von Faktoren ermöglicht es ihnen, Einfluss auf staatliche Akteure und Entscheidungen zu nehmen. Um dies zu tun, können diese Großunternehmen beispielsweise wirtschaftliche Investitionen in Forschung und Entwicklung, Produktherstellung, Arbeitskräfte etc. in Aussicht stellen. Hier können sie von Staaten besondere Konditionen z.B. Sonderwirtschaftszonen, Subventionen, oder abgeschwächte Regulierungen einfordern. Für Staaten kann es sich lohnen, den Unternehmen diese Vergünstigungen einzugestehen, da die erwarteten Mehreinnahmen durch die Ansiedlung von z.B. Arbeitskräften oder die Entstehung von Zulieferindustrien die Verluste durch Vergünstigungen kompensieren. Ebenfalls nicht zu vernachlässigen sind Steuereinnahmen, sei es auf Unternehmensgewinne, Löhne der Angestellten oder über Ex-/Importe (Zölle).

In allen Fällen ist jedoch das Problem, dass globale Unternehmen in ihren Entscheidungen nur selten an einzelne Länder oder Regionen gebunden sind. Fabriken können oftmals an einer Vielzahl an Orten gebaut werden. Weltweite Unternehmensgewinne können durch legale Buchhaltungsentscheidungen in besonders vorteilhafte (also günstige) Steuersysteme verlagert werden.

Entsprechend können Global Player verschiedene staatliche Akteure in Verhandlungen gegeneinander ausspielen. So können sie drohen, ihre Aktivitäten in ein anderes Land zu verlagern, wenn die Staaten ihren Forderungen nicht angemessen entgegen kommen. Dies ist vor allem dann schwierig, wenn staatliche Akteure hierdurch in ein „Race to the Bottom“ verwickelt werden, in dem sie sich gegenseitig mit immer geringeren Regularien für globale Unternehmen unterbieten. Dazu gehören zum Beispiel niedrige Steuersätze, bevorzugte Behandlung bei Anträgen, aber auch niedrige Auflagen für Arbeits- und Umweltschutz. Dies kann zu signifikanten Nachteilen für die Bevölkerung führen, vor allem wenn an Arbeitsschutz oder Sicherheitsstandards genagt wird.

Die Drohung abzuwandern oder in anderen Ländern zu investieren, ist vor allem dann einfach, wenn die relevanten Produkte und Dienstleistungen wenig spezialisiertes Fachwissen benötigen. Möchte etwa ein hochspezialisiertes Technologieunternehmen wie Airbus seine Flugzeuge in einem anderen Land herstellen lassen, so ist hierfür besonderes Know-How der Arbeitnehmer von Nöten, das nicht überall in ausreichendem Maße zur Verfügung steht. Für Unternehmen wie etwa Amazon, deren Warenhausstruktur nichts anderes als Lagerhallen sind, die mit verhältnismäßig geringem Aufwand Pakete versenden können, ist es einfacher „Abwanderungsdruck“ aufzubauen.

Aktuelles

Dass globale Unternehmen aktiv Staaten gegeneinander ausspielen, um bessere Konditionen zu erlangen, ist keine Seltenheit. Besonders aufsehenerregend waren in den entwickelten Nationen vor allem zwei Fälle: Amazon und Starbucks.

Im Jahr 2017 machte Amazon bekannt, dass es einen zweiten Hauptsitz (HQ2) in den Vereinigten Staaten eröffnen wollte. Hierzu rief das Unternehmen Städte und Regionen der USA dazu auf, sich bei Amazon zu bewerben um herauszufinden, welches Angebot am attraktivsten sei. Die Reaktion der Städte war ein zuvor unbekannter Wettbewerb, um möglichst ansprechende Subventionen anzubieten - von denen andere Unternehmen nur träumen können. Den Zuschlag bekamen im Jahr 2019 Orte in Virginia und Tennessee (letzteres ist ein Ersatz für New York City – dort führten Bürgerproteste und Kritik von Lokalpolitiker*innen dazu, dass Amazon sich gegen den Ausbau entschied). Kumulativ betragen die direkten und indirekten Subventionen, die das Unternehmen erhalten wird, je nach Schätzung nun zwischen 2,1 und 4,6 Milliarden USD. Sie setzen sich zusammen aus direkten Förderungen sowie Verzicht auf anfallende Steuereinnahmen.

Starbucks hingegen macht immer wieder Schlagzeilen durch das geschickte Ausnutzen von Niedrigsteuerländern. So werden die Gewinne der weltweiten Filialen gezielt in die Hauptsitze gebucht, in denen effektiv nur geringe Steuern anfallen. Beispielsweise werden für Starbucks-Filialen in Europa „Lizenzgebühren“ in den Niederlanden fällig – diese werden dort nur minimal besteuert. Durch diesen und weitere (legale!) Tricks hat Starbucks Deutschland mit einem Jahresumsatz von 15 Mrd. USD im Land zwischen 2005 und 2011 quasi keine Ertragssteuer gezahlt.

Dies sind Probleme, die Industrienationen vor große Probleme stellen. In Entwicklungsländern, in denen staatliche Autorität teilweise noch schwächer ausgeprägt ist, sind die Folgen für die Bürgerinnen und Bürger noch viel weitergehend. In der mexikanischen Stadt Mexicali, beispielsweise, setzte der US-Bierproduzent Constellation Brands (Jahresumsatz 6 Mrd. USD, vertreibt unter anderem die Marken Corona und Tsingtao) durch, dass die Stadt dem Unternehmen Zugang zu dem Wasser des Colorado Rivers garantiert. Jedes Jahr, so die geheime Vereinbarung, hat die Fabrik uneingeschränkten Zugriff auf 20 Millionen Kubikmeter Trinkwasser. Die weitgehend arme indigene Bevölkerung hat das Nachsehen. Der Colorado River, dessen Wasser unter anderem die Lebensader US-amerikanischer Städte wie Las Vegas, San Diego und Los Angeles, sowie der wasserintensiven Landwirtschaft in Südkalifornien ist, ist in Nordmexiko nicht mehr als ein Rinnsal. Entsprechend bestehen ernsthafte Konflikte zwischen der Bevölkerung und dem Unternehmen im Zugriff auf lebenswichtige Ressourcen.

Mexicali ist leider kein Einzelfall. Überall in Entwicklungsländern finden sich Fälle, in denen Unternehmen die Schwäche von Regierungen gezielt zu ihrem Vorteil ausnutzen. Leidtragende sind in den meisten Fällen die allgemeine Bevölkerung sowie die Umwelt. Da dieses Vorgehen – sowohl in Industrienationen als auch Entwicklungsländern – meist auf legalen Praktiken beruht (Verträge, Abmachungen, etc.) ist es für die Bevölkerung nur sehr schwer, sich gegen die Konzerne durchzusetzen.

Probleme und Lösungsansätze

Dass große Konzerne sich oft gegen Regierungen durchsetzen und ihr Handeln weiterführen können lässt sich in Felder aufteilen. Zum einen ist es die Abhängigkeit der Regionen von der Anwesenheit der Großkonzerne. Diese bringen Arbeitsplätze und generell Geld, auf das besonders Entwicklungsländer angewiesen sind. Zum anderen sind es unternehmensfreundliche Gesetze und Regularien - national und global. 

In vielen Freihandelsabkommen sind sogenannte Schiedsgerichtssysteme (investor-state dispute settlement, ISDS) vorgesehen. Diese wurden grundsätzlich eingerichtet, um eine klare Zuständigkeit beim Konflikt über Ländergrenzen innerhalb des Freihandelsraums zu schaffen. Oft können Konzerne diese Schiedsgerichte nutzen, um die Gesetzgebung in anderen Staaten zu beeinflussen, wie es zum Beispiel im Verfahren Philip Morris gegen Australien geschehen ist. Die australische Regierung verabschiedete ein Gesetz, nach welchem alle Zigarettenmarken eine universale Verpackung verwenden müssen. Der Tabak-Großkonzern Philip Morris veranlasste deshalb ein Schiedsgerichtsverfahren, weil er seine zukünftigen Umsätze gefährdet sah. Schlussendlich verlor der Konzern das Verfahren, konnte aber erreichen, dass die neuseeländische Regierung ein ähnliches Vorhaben mehrere Jahre pausierte, aus Sorge vor einer Klage durch den Konzern. 

Ähnliche Verfahren finden in aller Welt statt und werden in den meisten Fällen geheim gehalten. Während reiche Industriestaaten sich Prozesse finanziell leisten können, sind Entwicklungsländern oft schon bei der Androhung einer Klage gezwungen nachzugeben. 

Um sich mit diesen Problemen zu befassen, setzte die Kommission der Vereinten Nationen für internationales Handelsrecht (United Nations Commission on International Trade Law, UNCITRAL) die “Working Group III: Investor-State Dispute Settlement Reform” ein, welche im November 2017 ihre Arbeit aufnahm. Ziel der Arbeitsgruppe ist es, Probleme des ISDS-Verfahrens zu evaluieren und gegebenenfalls Reformvorschläge zu erarbeiten.
Auch die meisten Staaten sehen die Problematiken dieses Systems, weshalb in Freihandelsabkommen der letzten Jahre stark eingeschränkte oder gar keine Schiedsgerichte festgeschrieben werden. Viele Abkommen entstanden jedoch vor dieser Zeit und können nicht oder nur mit sehr großem Aufwand nachverhandelt werden. 

Zusätzlich zu Regularien und Gesetzen, die internationale Großkonzerne begünstigen, gibt es auch noch weitere, die vor allem mit der großen wirtschaftlichen Macht der Konzerne zusammenhängen. Standorte internationaler Großkonzerne bringen häufig Arbeitsplätze und damit (eingeschränkten) Wohlstand in die Region. Besonders in Entwicklungsländern ist das ein nicht zu unterschätzender Aspekt, aber auch in reichen Industrienationen kommen diese Situationen zuhauf vor, wie man am Verhalten der US-amerikanischen Städte im Bezug zum Hauptquartier von Amazon sehen kann.
Besonders in armen Regionen können Großkonzerne dabei ihre Macht ausspielen und Handlungen durchsetzen, die der Gesellschaft häufig mehr schaden als nutzen. Das lässt sich auch in Südostasien beobachten, wo große Textilkonzerne billig produzieren lassen können, weil sie erfolgreich weitgehende Arbeitssicherheits- und Umweltschutzgesetze abwenden können. Die Folge sind Sweatshops und verseuchte Landstriche. Genauso können Regionen mit starker Landwirtschaft es sich häufig nicht leisten Unilver oder Nestlé als Abnehmer zu verlieren. Und beugen sich den Forderungen. 

Während es schon komplex ist, die rechtliche Struktur zu reformieren, scheint die Lösung der anderen Problematiken noch undurchsichtiger. Ziel sollte sein, dass die staatlichen Institutionen der Staaten und Regionen gerechtfertigte Vorhaben umsetzen und entsprechende Gesetze erlassen können, ohne dass Großkonzerne gegen den Nutzen der Gesellschaft interferieren können. Allerdings ist es schwierig, diese Nutzen im Vorhinein abzuwägen.
International sollte verhindert werden, dass Dumping-Löhne und “Race to the bottom” zum Standard werden oder weiterhin bleiben. Die Welthandelsorganisation (world trade organisation, WTO) hat hier bereits viele international geltende Handelsregeln aufgestellt. Oft scheitert es dabei an der Durchsetzung - insbesondere gegen die sehr großen Industriestaaten(-gruppen), wie China, USA und die EU. Hier können internationale Regeln und Maßnahmen greifen und verhindern, dass Unternehmen zumindest grenzübergreifend staatliche Akteure gegeneinander ausspielen können. 

Punkte zur Diskussion

  • Wie kann ein “race to the bottom” zwischen Staaten und/oder öffentlichen Institutionen verhindert werden?
  • Wie können die Interessen von finanziell schwächeren Staaten und öffentlichen Institutionen gegenüber internationale Großkonzerne gestärkt werden? 
  • Welche alternativen Kontrollsysteme außerhalb von Schiedsgerichtssystemen können einen gerechte Handelsbedingungen für alle durchsetzen?
  • Wie kann eine Abwägung zwischen unternehmerischen und zivilgesellschaftlicher Interessen gewährleistet werden? 
  • Wie kann ein ausgeglichener Wettbewerb von Großkonzernen und mittelständischen Unternehmen im Aspekt von Vergünstigungen aussehen?

Quellen und weiterführende Links

Bei Fragen können Sie sich an David Kybelka unter [email protected] wenden.

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